Die Fahrt nach Agua Azul : reine Nervensache.
Unser weiblicher Cheuffeur Daniela fuhr nicht das erste Mal in Mexiko - sie lebt hier und kennt sich auf den Straßen Chiapas` aus, was dem ganzen das I-Tüpfelchen aufsetzte. Der Weg führte erst über normale Bundesstraßen, dann wurde es hin und wieder mal komplizierter, als wir dem Nationalpark näher kamen. Langsam fahren ist angesagt, selbst wenn die Mexikaner drängeln wie verrückt. Was uns aber noch blühen sollte, davon wussten wir noch nichts.
Vorsicht : Abgründe.
Meine Güte. Wir fuhren auf Straßen, die in blitz-förmiger, waagerechter Anordnung aufgerissen waren. Straßenabschnitte völlig versetzt, Löcher im Boden. Eine Straße war einfach vom Mittelstreifen ab herunter in einen Abgrund gebrochen - Rückstände des Erdbebens 2017, hallo bittere Realität. Das Staunen über diese Naturkraft lässt schon etwas Gänsehaut zurück. Daniela aber war trotz ihres angestiegenen Stresslevels ziemlich ruhig und sicher unterwegs.
Vorsicht : Straßensperren.
Eine weitere Besonderheit, die öfter mal in Mexiko auftritt ist das Überwinden von Straßensperren durch und MIT Kindern. Auf bekannten, aber eher ruhigen Strecken zu Ausflugszielen, werden in ärmeren Regionen gerne mal die Straßen gesperrt. Es stehen dann meist Kinder links und rechts der Straße, zwischen ihnen ist ein Seil oder irgendwas der Art gespannt. Das Problem ist : man kommt evtl. in eine moralische Patz-Situation, und dort dann nicht mehr so leicht heraus - wie wir.
Das Stresslevel steigt.
Wir mussten durch ca. 7 solcher Sperren durch, was Danielas Blutdruck ab Nr. 5 endgültig in die Höhe trieb und auch mir langsam den Schweiß auf die Stirn.
Immer wieder anhalten, in traurige Gesichter schauen, verhandeln, um Durchfahrt bitten, ein Taschengeld geben oder Sachen abkaufen, die Ärmchen aus dem offenen Fenster wieder heraus-schieben, nächstes Kind vertrösten. Weiterfahren, schlechtes Gewissen haben.
Es ist schlimm für die Kinder, und auch nicht und zwar gar nicht schön für uns.
Blockade Nr. 7 : Eine Zerreißprobe
Nach unserem letzten Stop lagen ihre Nerven dann ein wenig blank. Wir konnten dieses mal die Bettelkinder nämlich nicht zufriedenstellen : sie warfen sich schreiend auf die Motorhaube. Es war ein Desaster. Trotz das wir ihnen irgendwelche Früchte abkauften, blockierten sie weiterhin, bis weitere 3 Autos hinter uns waren und so ein riesen Hupkonzert entstand, bis die Kinder endlich von der Motorhaube stiegen ; aus dem Weg gingen sie aber trotzdem nicht.
Nach fünfmaligem Androhen, das wir losfahren, hatten wir plötzlich ein Kind IM Auto sitzen, welches auf der Rückbank neben mir brüllte, weinte und fluchte. Ihm galt unsere volle Aufmerksamkeit , was wiederum Ablenkungsmanöver für eines der Anderen war, sich mal eben so durch das Fenster in den Fahrerraum zu lehnen und die Finger um die Tasche der Beifahrerin Jenny zu legen. Ein Mexikaner aus einem der anderen Wagen erschien urplötzlich und nahm das hintere Kind schreiend und sich wehrend aus dem Auto raus, während wir unsere Taschen verteidigten.
Durch den Trubel war der Weg endlich frei von Kindern und wir düsten los, durch das gespannte Stoffseil-Dingens durch.
Auch die moralische Grenze war zerfetzt.
Im Rückspiegel sah ich den Kindern noch zu, wie sie den Stoff wieder einsammelten und wie unser "Held" auch wieder in`s Auto stieg. Wir waren völlig perplex - was ist passiert, wie ist das Kind auf den Rücksitz gekommen?
Obwohl wir längst viel zu spät waren, hielten wir mitten auf der Straße nach 1 km an um Luft zu nehmen. Daniela ging erstmal ein paar Schritte um wohl mal ordentlich zu heulen und 3 Zigaretten nacheinander zu fluppen. Denn so eine Situation ist besonders für den Fahrer schlimm. Es war, als wollte uns Jemand unser Moral-Gleichgewichts-Sinn mal gehörig durchrütteln. Geschafft. 100 verschiedene Gefühle zu den Kindern und ihrer Situation, zu unserem Verhalten. Aber was soll man denn tun?
Entwarnung :
Obwohl Dani viel in Mexiko fährt und sich damit auskennt, so aufdringliches Verhalten hatte sie noch nie mit erlebt. Also vielleicht und hoffentlich, war dies eine schlimme Ausnahme.
Das Patentrezept für die Situation?
Wir haben noch viel drüber geredet, ja sogar gestritten. Einer war der Meinung, nie mehr auch nur ein Fenster für Straßenbettler herunter zu lassen, der andere wäre niemals nicht durch das Stoff-seil gefahren, eher und lieber zurück. Wieder der nächste findet es ja sowieso falsch Betteln zu unterstützen, man sollte sich was anderes einfallen lassen. Wir waren schlichtweg überfordert.
Wir konnten uns weder in der Situation, noch am Tag darauf einigen, wie man mit sowas umgeht. Ruhig am Besten, logisch. Aber weiter? Es gibt kein Patentrezept. Ethische Fallbesprechungen würden sich an so was die Zähne ausbeißen. Die vorherrschende Meinung zum Thema bettelnde Kinder :
KEIN Geld geben. Diesen Ratschlag liest man überall und ist z.B. auch die Expertenmeinung von den
SOS-Kinderdörfern weltweit zu diesem Thema, welche ihr
hier gerne nachlesen könnt. Alles leuchtet total ein, man weiß ja, sie sollen in die Schule gehen! Aber dann steht man an der x-ten Straßensperre, schaut in traurige und später böse Kinderaugen und ...
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humanium Generelles über Kinderarmut und Kinderrechte in Mexiko.
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